Zum Inhalt springen
Home » Wenn der Wald spricht – und die Jagd nicht zuhören will

Wenn der Wald spricht – und die Jagd nicht zuhören will

  • 4 Min. Lesezeit
Grauwolf im Wald c Wild Wonders of Europe_sergey Gorshkov_WWF.jpg

Warum der Wolf im Sarganserland (Schweiz) längst hilft – und warum das Jagd-Narrativ ins Wanken gerät

Es wirkt fast wie ein Déjà-vu: Während manche Jagdvertreter weiterhin lautstark vor angeblich „explodierenden“ Wolfsbeständen warnen und eindringlich Regulierung fordern, zeichnet die Realität im Sarganserland ein völlig anderes Bild. Der Kanton St. Gallen in der Schweiz stellte letzte Woche unmissverständlich klar, dass der Wolf einen positiven Einfluss auf den Wald ausübt. Dieses Fazit ist bemerkenswert deutlich – und erstaunlich konsistent mit jenen Erkenntnissen, die Fachleute bereits im vergangenen Sommer im Bannwald von Vättis präsentiert haben. Doch warum wird dieses Wissen ignoriert? Und weswegen drängt die Jagd trotzdem weiter auf Eingriffe?

Wer den Bannwald betritt, versteht schnell, weshalb Försterinnen und Wildbiologen seit Jahren von einem ökologischen Wendepunkt sprechen. Dort, wo sich 2011/12 das erste Wolfsrudel der Schweiz bildete, begann ein Prozess, den Förster Stefan Nigg schlicht als „natürliche Regulierung“ bezeichnet. Die Zahlen sind klar: Innerhalb von vier Jahren halbierte sich der Rehbestand rund um Vättis. Der Verbiss an jungen Tannen und Fichten ging deutlich zurück – und junge Schutzwaldbäume wuchsen erstmals seit Jahrzehnten wieder über die kritische Verbisshöhe hinaus. Für einen Bergwald, der Steinschlag und Rutschungen abfangen muss, ist das nichts weniger als eine ökologische Entlastung.

Auch Wildhüter Rolf Wildhaber bestätigte im Rahmen des WWLK-Weiterbildungstags, dass der Wolf in der Region vor allem jene Tiere frisst, die für Verbissschäden verantwortlich sind: Reh, Gämse und Rothirsch. Nur rund zehn Prozent der Wolfsnahrung bestünden überhaupt aus Nutztieren – und das fast ausschließlich in den drei Sommermonaten. Gleichzeitig zeigen die Jagdstatistiken selbst, wie flexibel Wildtiere reagieren: Weil Hirsche dem Wolf ausweichen, sind sie in manchen Tälern seltener, in anderen dagegen zahlreicher. Valens etwa verzeichnet inzwischen „doppelt so viele Hirschabschüsse“ wie zuvor. Ausgleich statt Katastrophe – doch in manchen Revieren stört genau das.

Ein Wald, der aufatmet

Auch die Wissenschaft liefert seit Jahren die Grundlage für eine nüchterne Betrachtung. Die Wildforschungsanstalt WSL dokumentierte in einer mehrjährigen Untersuchung, dass insbesondere Rothirsche im Winter erheblichen Verbiss verursachen und damit die Verjüngung von Schutzwäldern behindern. Sinkt der Wilddruck, erholt sich der Wald merkbar – und genau das geschieht in Gebieten mit stabilen Wolfspräsenz. Der Wolf übernimmt damit eine Funktion, die lange Zeit teuer und mühsam mit Jagd, Personal und staatlichen Eingriffen organisiert werden musste. Nun geschieht sie kostenlos, dauerhaft und ökologisch stimmig.

Warum die Jagd trotzdem auf Regulierung drängt

Warum also diese permanente Forderung nach Abschuss, nach „Bestandskontrolle“ und „Regulierung“? Die Antwort ist unbequem. Der Wolf verändert die Jagd – und zwar tiefgreifend. Wenn sich Wildbestände verschieben, wenn Reviere weniger „planbar“ sind, wenn die Jagdstrecken schrumpfen oder sich verlagern, verliert die Jagd an Einfluss und an Selbstverständlichkeit. Manche Jäger mögen das offen aussprechen, viele nicht. Doch es erklärt, weshalb die Debatten so emotional geführt werden und weshalb wissenschaftliche Fakten oft wie Störgeräusche behandelt werden.

Dabei ist der Konflikt gar kein ökologischer. Er ist kulturell. Jahrzehntelang war die Jagd in vielen Regionen die dominierende Instanz, wenn es um Wildtierbestände ging. Der Wolf stellt dieses Modell infrage. Nicht durch Aggression, nicht durch Gefahr – sondern durch Effektivität. Er macht, wozu kein Jagdverband je in der Lage war: Er reguliert kontinuierlich, flächendeckend und ohne menschliche Steuerung. Und er hilft genau jenem Ökosystem, das die Jagd für sich beansprucht zu schützen.

Ein Umdenken, das längst überfällig war

Dass der Kanton St. Gallen nun öffentlich festhält, der Wolf habe einen positiven Einfluss auf den Wald, zeigt ein Umdenken, das längst überfällig war. Verbissforschung, Monitoringdaten und forstpraktische Erfahrungen sprechen eine klare Sprache. Dass Teile der Jagd dennoch weiter auf Regulierung drängen, lässt sich kaum mit Waldschutz erklären. Viel eher geht es um den Erhalt eigener Strukturen und Vorstellungen. Der Wald hingegen scheint seine eigene Meinung längst kundzutun – und er gedeiht, wenn der Wolf da ist.

Quellen

Kommentar verfassen

×