Seit mehr als zwei Jahrzehnten breitet sich der Wolf in Deutschland wieder aus. Jahr für Jahr meldeten die Fachstellen neue Rudel, neue Territorien, neue Nachweise. Die Kurve zeigte stetig nach oben – bis jetzt. Erstmals seit Beginn der Wiederbesiedlung ist der Bestand nicht weiter gewachsen.
Die Dokumentations- und Beratungsstelle des Bundes zum Thema Wolf (DBBW) registrierte im Monitoringjahr 2024/25 276 Territorien, neun weniger als im Vorjahr. Dahinter stehen 219 Rudel, 43 Paare und 14 Einzeltiere, insgesamt 1.636 nachgewiesene Individuen. Es ist ein Wendepunkt, auf den Fachleute seit Jahren hingewiesen haben – und der die politische Debatte neu ordnet.
Doch die Zahlen erzählen mehr als nur eine Bestandsbilanz. Sie sind ein Spiegel für die Spannungen zwischen Biologie, Politik, Jagd, Landwirtschaft und Gesellschaft. Und sie zeigen, wie weit Wahrnehmung und Realität zuletzt auseinander lagen.
Ein Rückgang, der überrascht – und zugleich erklärbar ist
Die vergangenen Jahre waren geprägt von Wachstum: von 220 Territorien im Monitoringjahr 2020/21 auf 285 im Jahr 2023/24 – ein Plus von rund 25 Prozent. Viele Beobachter gingen davon aus, dass diese Entwicklung noch mehrere Jahre anhalten würde. Fehlanzeige.
Der Rückgang betrifft vor allem die Paare, deren Zahl um 13 sank. „Das ist ein klassischer Effekt innerartlicher Konkurrenz“, sagen Populationsbiologen. Wo Territorien dicht beieinanderliegen, haben neue Paare weniger Chancen, sich dauerhaft zu etablieren. Gleichzeitig stieg die Zahl der Rudel leicht an – ein Hinweis darauf, dass bestehende Familienverbände stabil bleiben.
Geografisch bleibt das Muster unverändert: Niedersachsen (63), Brandenburg (60), Sachsen (46), Sachsen-Anhalt (38) und Mecklenburg-Vorpommern (34) sind weiterhin die Schwerpunktregionen. Dort, wo der Wolf schon lange vorkommt, verdichtet sich das Vorkommen; neue Regionen werden hingegen nur punktuell besiedelt.
Die Entwicklung der letzten fünf Jahre zeigt die folgende Übersicht:

Nutztierrisse: Weniger Übergriffe trotz mehr Wölfen – ein oft übersehener Trend
Neben den Territorienzahlen berichtet die DBBW regelmäßig auch über Nutztierrisse und Präventionsmaßnahmen. Und hier zeigt sich ein weiterer, entscheidender Trend, der in der politischen Debatte häufig untergeht:
Die Zahl der Nutztierrisse ist 2024 weiter zurückgegangen
Laut dem DBBW-Bericht „Prävention und Nutztierschäden 2024“:
- 1.109 Übergriffe wurden bundesweit dokumentiert.
- Die Schadensausgleichszahlungen beliefen sich auf rund 780.400 Euro.
- Gleichzeitig wurde ein Rekordwert an Herdenschutzmaßnahmen verzeichnet: 3.989 geförderte Herdenschutzanträge.
Damit zeigt sich ein Muster, das Fachstellen seit Jahren beobachten:
Wo Herdenschutz umgesetzt ist, sinken Nutztierrisse langfristig – selbst in Regionen mit hoher Wolfsdichte.
Der Rückgang 2024 steht in deutlichem Kontrast zu den politischen Debatten, in denen oftmals behauptet wurde, die steigenden Wolfszahlen machten eine allgemeine Bejagung notwendig, um Nutztiere zu schützen. Die staatlichen Daten zeigen: Die eigentliche Stellschraube ist Herdenschutz, nicht Jagd.
Ein politisch aufgeladener Diskurs – und die Macht eines Narrativs
Während die DBBW sachlich Daten auswertet, wird die gesellschaftliche Debatte in einem völlig anderen Takt geführt. Kaum eine andere Art ist politisch so aufgeladen wie der Wolf.
In den vergangenen Monaten dominierten Schlagzeilen, Kommentarspalten und politische Forderungen ein wiederkehrendes Narrativ: Das Wachstum der Population sei nur dann zu bremsen, wenn der Wolf ins Jagdrecht überführt und gezielt reguliert werde. Besonders von einigen Landesjägerschaften wurde immer wieder betont, der Wolf habe als Top-Prädator keine natürlichen Feinde – deshalb müsse der Mensch seine Rolle einnehmen. Doch die Daten des staatlichen Monitorings widersprechen diesem Bild Punkt für Punkt.
Die Zahlen zeigen: Der Wolf reguliert sich selbst – und der Straßenverkehr tut sein Übriges
Während die Debatte eskalierte, stagnierte der Bestand. Und zwar ohne jagdliche Eingriffe. Im gesamten Monitoringjahr wurden bundesweit nur drei Managemententnahmen registriert – punktuelle Ausnahmen, keine reguläre Bejagung.
Die Gründe für die Stagnation liegen in ökologischen Mechanismen:
- Innerartliche Konkurrenz: Wölfe begrenzen sich gegenseitig. Je dichter ein Gebiet besiedelt ist, desto weniger Raum ist für neue Paare.
- Hohe natürliche Mortalität durch Verkehr: 124 Wölfe starben 2024/25 auf Straßen – ein Faktor, der die Population messbar beeinflusst.
- Revierbindung: Ein Rudel verteidigt ein Territorium und hält damit andere Wölfe fern. Stabilität in den Territorien bedeutet weniger Expansion.
Diese Mechanismen sind gut beschrieben, aber in der Debatte selten präsent. Bemerkenswert ist:
Selbst in Niedersachsen, wo die Landesjägerschaft den amtlichen Wolfsbeauftragten stellt und am Monitoring mitarbeitet, zeigen die Daten dieselbe natürliche Stagnation.
EU hat bereits abgestuft – Deutschland zieht nun nach
Die Europäische Union hat den Wolf bereits von „streng geschützt“ auf „geschützt“ herabgestuft. Der Schritt ist formal beschlossen – ein Signal, das den Mitgliedstaaten größere Spielräume eröffnen soll.
Deutschland arbeitet nun an der Umsetzung. Die Bundesregierung plant, den Wolf aus dem Bundesnaturschutzgesetz ins Jagdgesetz zu überführen. Die Erwartung: Verfahren bei Problemwölfen sollen schneller werden, Länder sollen unter bestimmten Bedingungen früher handeln können.
Viele Jagdverbände sehen in einer regulären, flächendeckenden Bejagung des Wolfs eine notwendige Antwort auf die Entwicklung der vergangenen Jahre. Doch auch nach der Herabstufung auf EU-Ebene bleibt eines klar:
Eine allgemeine Jagd auf den Wolf ist mit den Vorgaben der FFH-Richtlinie nicht vereinbar.
Selbst in Anhang V – also mit dem Status „geschützt“ statt „streng geschützt“ – verlangt das EU-Naturschutzrecht, dass jede Form der Nutzung streng kontrolliert, wissenschaftlich begründet und populationsverträglich sein muss. Eine offene Bestandsjagd, wie sie für reguläres Wild üblich ist, wäre rechtlich ausgeschlossen.
Deutschland kann den Wolf zwar ins Jagdrecht überführen – doch auch dort bleibt er eine streng regulierte, europarechtlich geschützte Art, bei der Abschüsse nur in klar definierten Ausnahmefällen zulässig sind.
Biologie und Politik laufen selten im Gleichschritt
Während die politischen Prozesse laufen, zeigt die Biologie ein eigenes Tempo.
In 202 Rudeln wurde Nachwuchs nachgewiesen, insgesamt 769 Welpen. Die Population bleibt stabil und gesund, auch wenn die räumliche Ausbreitung nachlässt.
- Für Naturschutzbehörden bedeutet das:: Die großen Herausforderungen liegen nicht in der Zahl der Wölfe, sondern in der Verdichtung und in regionalen Konflikten.
- Für Weidetierhalter heißt das:: Herdenschutz bleibt unverzichtbar, gerade dort, wo die Wolfsvorkommen seit Jahren bestehen.
- Für die Politik heißt das:: Schnellere Eingriffe lösen nicht die grundlegenden Konflikte; sie müssen eingebettet sein in Prävention, Beratung und transparente Verfahren.
Für ein zukunftsfähiges Wolfsmanagement bedeutet das vor allem eines: Die Debatte braucht weniger Reflexe – und mehr Realitätssinn.
Quellen
- DBBW (11.11.2025): Ergebnisse des Wolfsmonitorings 2024/25 veröffentlicht – Bestandsentwicklung stagniert.(Pressemitteilung, inkl. Individuenzahlen, Länderverteilung, Totfunde)
- DBBW (laufend aktualisiert): Entwicklung der Territorien seit 2000. (Zeitreihe 2020/21–2024/25)
- DBBW (laufend aktualisiert): Bestätigte Wolfsterritorien in Deutschland. (Definitionen, Monitoringjahr, Reproduktion)
- DBBW: Schutzstatus des Wolfes. (Rechtsrahmen, keine allgemeine Bejagung, Ausnahmen)