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Wie Herdenschutzhunde wirken – warum sie das Risiko von Rissen tatsächlich senken

  • 6 Min. Lesezeit
Herd Management CH © CH WOLF -15072.JPG

Viele Tierhalterinnen und Tierhalter stellen sich eine zentrale Frage: Wie genau reduzieren Herdenschutzhunde das Risiko von Übergriffen und gibt es dafür mehr als nur Erfahrungsberichte aus der Praxis?

Seit Jahrhunderten setzen Schäfer in den Abruzzen, in den Karpaten oder im Mittelmeerraum Herdenschutzhunde ein. Dass diese Hunde „etwas bewirken“, ist im Almen- und Weidealltag unbestritten. Neu ist, dass dieses Erfahrungswissen inzwischen auch systematisch untersucht wird. Mehrere Studien, wie zuletzt die von Bommel et al, 2024 und GPS-basierte Analysen kommen zu einem übereinstimmenden Ergebnis:

Herdenschutzhunde können das Risiko von Rissen erheblich verringern, sofern sie fachgerecht eingesetzt und in ein stimmiges Herdenschutzsystem eingebettet sind.

Der folgende Überblick fasst zusammen, was man heute über die Wirkweise dieser Hunde weiß – und warum das Zusammenspiel von Hund und Wolf als Canidenfamilie dabei so entscheidend ist.

Gemeinsame Sprache der Caniden

Der Kernmechanismus lässt sich nur verstehen, wenn man sich vergegenwärtigt, dass Herdenschutzhunde und Wölfe zur selbenFamilie gehören: den Caniden. Beide nutzen dieselben Kommunikationskanäle:

  • Geruchssignale (Urin, Kot, Körpergeruch),
  • Lautäußerungen (Bellen, Knurren, Heulen),
  • und Körpersprache und Bewegungsmuster.

Wölfe sind ausgeprägt territorial. Sie markieren die Grenzen ihres Reviers, patrouillieren regelmäßig und reagieren auf fremde Wölfe mit Abwehrverhalten, das bis zu schweren Verletzungen oder zum Tod des Eindringlings führen kann. Für einen Wolf ist es daher eine Frage des Überlebens, Duftmarken und Signale anderer Caniden sehr genau zu lesen und Risiken zu vermeiden.

Wenn sich im Umfeld einer Schafherde mehrere große, selbstbewusste Hunde aufhalten, die:

  • das Gebiet konsequent markieren,
  • bei Geräuschen und Bewegungen bellen und Präsenz zeigen,
  • und sich regelmäßig im Umfeld der Herde bewegen,

dann nimmt ein Wolf diese Hunde nicht als „harmlose Haustiere“ wahr, sondern als potentielle Rivalen in der eigenen ökologischen Nische. Aus seiner Sicht ist es rational, einen solchen Bereich weitgehend zu meiden oder nur sehr vorsichtig zu nutzen.

Was die Forschung dazu sagt

Mehrere Arbeitsgruppen, unter anderem um Linda van Bommel und Chris Johnson, haben diese Mechanismen in den letzten Jahren genauer untersucht. Dazu wurden Herdenschutzhunde mit GPS-Halsbändern ausgestattet und parallel die Aktivität von Beutegreifern mit Wildkameras und Futterexperimenten erfasst.

Die wichtigsten Ergebnisse lassen sich in Klartext so zusammenfassen:

  • Beutegreifer bleiben im Gebiet, werden aber im Schutzbereich der Hunde deutlich seltener
    In Untersuchungsgebieten in Australien, in denen Herdenschutzhunde systematisch eingesetzt wurden, konnten Füchse weiterhin nachgewiesen werden. Allerdings traten sie dort seltener und kürzer auf, wo Hunde regelmäßig unterwegs waren. Die Nachweise der Füchse verlagerten sich in Bereiche mit geringerer Hundetätigkeit.
  • Räuber verhalten sich vorsichtiger, wenn Hunde präsent sind
    In standardisierten Futterexperimenten hielten sich Füchse an Futterstellen in Hundezonen deutlich kürzer auf und fraßen weniger, obwohl das Futter frei verfügbar war. Das ist ein klassisches Muster für Tiere, die ein erhöhtes Risiko wahrnehmen und ihre Aktivität entsprechend einschränken.
  • Betriebe mit Herdenschutzhunden verzeichnen weniger dokumentierte Verluste
    Betriebsstudien zeigen, dass Schafhaltungen mit gut integrierten Herdenschutzhunden im Durchschnitt geringere dokumentierte Risszahlen aufweisen und seltener auf letale Kontrollmaßnahmen zurückgreifen. Die Hunde schaffen also nicht „absolute Sicherheit“, aber eine statistisch belastbare Risikoreduktion.

Diese Ergebnisse sind konsistent mit Beobachtungen aus Europa. Aus dem italienischen Nationalpark Majella liegen zum Beispiel GPS-Daten vor, die zeigen:

  • Wölfe nutzen ein großflächiges Territorium, das weite Teile des Parks umfasst.
  • In jenem Bereich, in dem ein Hirte mit seiner Schafherde und mehreren Herdenschutzhunden täglich unterwegs ist, finden sich deutlich weniger Wolf- Ortungen als im übrigen Revier.

Auch hier gilt: Die Wölfe sind nicht „weg“. Aber sie meiden jene Teilflächen, die aufgrund von Hundegeruch, Bellen und regelmäßiger Präsenz als Hunderevier erkennbar sind.

Rot = Rendevousplatz des Wolfsrudels; Lila GPS Punkte der Leitwölfe; Blau der Nachtpferch von 200 Schafe; Grün die Weide die jeden Tag vom Hirten mit 6 Maremmano Abruzzese beweidet wird. Entfernung zwischen Rendevouzplatz und dem Nachtpferch 500m

Rissreduktion durch Herdenschutzhunde

Aus diesen Befunden lässt sich ein klarer Wirkmechanismus ableiten. Herdenschutzhunde reduzieren das Risiko eines Risses, indem sie:

  1. das Umfeld der Herde als Hunderevier etablieren
    Durch Markieren, Präsenz und Lautäußerungen signalisieren sie anderen Caniden: Dieser Bereich ist besetzt und wird verteidigt.
  2. das Verhalten der Beutegreifer verändern
    Wölfe, Füchse oder andere Beutegreifer vermeiden hoch markierte und akustisch aktive Zonen oder nutzen sie nur noch sehr vorsichtig und kurzzeitig. Jagdversuche werden seltener und riskanter.
  3. Überraschungseffekte erschweren
    Die ständige Anwesenheit aufmerksamer Hunde reduziert die Chancen für Beutegreifer sich unbemerkt anzuschleichen oder die Herde ruhig über längere Zeit zu beobachten.
  4. direkte Abwehr ermöglichen
    Kommt es dennoch zu Annäherungen, stellen die Hunde die Räuber, verfolgen sie und treiben sie auf Distanz. Dabei kommt es selten zu längeren Kämpfen; meist reicht die konsequente Abwehr, um den Angriff abzubrechen.

Aus Sicht der Herde entsteht so ein Schutzgürtel, in dem Angriffe weniger wahrscheinlich sind und im Ernstfall schneller unterbrochen werden. Wichtig ist: Der Effekt ergibt sich nicht durch die Eliminierung der Beutegreifer wie den Wolf, sondern durch ein für Caniden leicht lesbares Signalgefüge, das Risiko und Aufwand eines Angriffs erhöht.

Voraussetzungen für den wirksamen Einsatz

Die Forschungsergebnisse und die jahrhundertelange Praxis sind sich in einem Punkt einig: Herdenschutzhunde sind kein Selbstläufer. Ihre Wirksamkeit hängt von Rahmenbedingungen ab, die sich klar benennen lassen:

  • Ausreichende Anzahl von Hunden
    In größeren, unübersichtlichen Weideflächen reicht ein einzelner Hund in der Regel nicht aus, um rund um die Herde einen wirksamen Sicherheitsgürtel aufzubauen. Mehrere gut koordinierte Hunde können verschiedene Zugänge und Teilbereiche gleichzeitig abdecken.
  • Stabile Bindung an die Herde
    Herdenschutzhunde müssen von klein auf mit den Weidetieren aufwachsen. Nur dann bleiben sie zuverlässig bei der Herde, akzeptieren die Tiere als „eigene Gruppe“ und richten ihre Schutzbereitschaft auf sie.
  • Kontinuierliche Betreuung
    Herdenschutzhunde ersetzen keine Hirten. Eine verantwortliche Person muss die Entwicklung der Hunde und der Herde beobachten, eingreifen können, wenn Probleme auftreten, und das System anpassen (z. B. bei wechselnden Weideflächen oder geänderten Herdengrößen).
  • Passende Weide- und Zaunplanung
    Nachtpferche, gut geführte und gewartete Elektrozäune und eine durchdachte Weideorganisation helfen den Hunden, ein überschaubares Gebiet zu markieren und zu verteidigen.

Wo diese Bedingungen nicht erfüllt sind – etwa bei einem Einzelhund ohne stabile Herdenbindung, ohne Betreuung oder in kaum strukturierbarer Fläche –, ist mit einer deutlich geringeren Schutzwirkung zu rechnen. Tritt unter solchen Umständen ein Riss auf, sagt das weniger über die grundsätzliche Eignung von Herdenschutzhundes, als über ein unzureichend abgestimmtes Gesamtsystem.

Quellen

van Bommel, L., & Johnson, C. N. (2012). Good dog! Using livestock guardian dogs to protect livestock from predators in Australia’s extensive grazing systems. Wildlife Research, 39(3), 220–229.

van Bommel, L., & Johnson, C. N. (2014). How guardian dogs protect livestock from predators: Territorial enforcement by Maremma sheepdogs. Wildlife Research, 41(8), 662–672.

van Bommel, L., Magrath, M. J. L., Coulson, G., & Johnson, C. N. (2024). Livestock guardian dogs establish a landscape of fear for wild predators: Implications for the role of guardian dogs in reducing human–wildlife conflict and supporting biodiversity conservation. Ecological Solutions and Evidence, 5(1), e12299.

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