Jagdverbände warnen vor „Scheuverlust“ – aber warum eigentlich?
In der aktuellen Debatte über Wolfsmanagement argumentieren besonders Jagdverbände, der Wolf verliere seine natürliche Scheu und müsse deshalb ins Jagdrecht aufgenommen und regelmäßig bejagt werden. Nur durch Jagddruck, so die zentrale Behauptung, könne man den Wolf „wieder scheu machen“ und angebliche Sicherheitsrisiken für Menschen verhindern. Diese Argumentation ist weit verbreitet und prägt politische Forderungen in mehreren Ländern.
Wissenschaftliche Daten widersprechen der jagdlichen Erzählung
Die LIFE-Studie Technical Report T2.1 – WILD WOLF / LCIE zeigt jedoch deutlich, dass auffällige oder vertraute Wölfe in fast allen dokumentierten Fällen durch menschliche Futterquellen ihr Verhalten ändern. Unsachgemäß gelagerte Abfälle, Futterreste, Anfütterung für Fotografie, Haustierfutter und ähnliche menschliche Attraktoren sind die entscheidenden Faktoren. Die Forschung zeigt damit klar: Nicht mangelnder Jagddruck führt zu Gewöhnung, sondern Nahrungsquellen, die mit menschlichem Geruch verbunden sind.
Jagdliche Luderplätze fördern genau das Verhalten, vor dem die Jagd selbst warnt
Eine dieser menschlichen Futterquellen ist direkt mit jagdlicher Praxis verbunden: der Luderplatz. Dort werden Innereien und Schlachtabfälle ausgebracht, um Aasfresser anzulocken. Für Wölfe ist das eine jederzeit verfügbare, hochattraktive Nahrungsquelle und zugleich eine mit starken menschlichen Geruchsspuren. Die LIFE-Studie beschreibt exakt diesen Mechanismus als Ausgangspunkt für Habituation: Wiederholte Kombination von Nahrung und menschlichem Geruch führt dazu, dass ein Wolf Menschen nicht mehr als Gefahr wahrnimmt.
Der jagdliche Widerspruch: Ursache und Begründung fallen zusammen
Hier entsteht ein klarer Widerspruch in der Argumentation der Jagdverbände: Einerseits wird gefordert, der Wolf müsse bejagt werden, weil er angeblich seine Scheu verliere. Andererseits wird gleichzeitig eine Praxis aufrechterhalten, die genau zu dieser Gewöhnung beiträgt. Damit wird die Forderung nach stärkerer Wolfsregulation mit einem Problem begründet, das durch jagdliche Futtereinrichtungen selbst begünstigt wird. Dieser Zirkelschluss – „Der Wolf ist habituert, also müssen wir jagen“ – ignoriert, dass Habituation häufig dort stattfindet, wo Futterreste, wie an Luderplätzen verfügbar sind.
Konsequenz: Wenn Scheu das Ziel ist, muss die Jagd zuerst die Luderplätze abschaffen
Wenn es tatsächlich das Ziel sein soll, dass Wölfe ihre natürliche Scheu behalten, ergibt sich aus der wissenschaftlichen Datenlage ein klarer erster Schritt: die konsequente Abschaffung von Luderplätzen in allen Gebieten, in denen Wölfe vorkommen – und das betrifft faktisch ganz Mitteleuropa. Solange Futterreste mit menschlichem Geruch abgelegt werden, entsteht immer wieder die Verknüpfung „Mensch = Nahrung“.
Ein modernes Wolfsmanagement beginnt nicht beim Wolf, sondern bei menschlichen Verhaltensmustern
Die Behauptung, der Wolf verliere ohne Jagd seine Scheu, lässt sich wissenschaftlich nicht halten. Die Ursachen für Habituation liegen fast vollständig in menschlichem Verhalten und in bestimmten jagdlichen Praktiken. Ein wirksames Wolfsmanagement muss daher zuerst die Bedingungen verändern, die zu diesem Verhalten führen. Die Diskussion über „scheue Wölfe“ bleibt unvollständig, solange nicht auch jene Faktoren thematisiert werden, die diese Gewöhnung überhaupt erst ermöglichen.
Quelle:
LIFE WILD WOLF – LCIE Technical Report T2.1 (2023):
Definition and documentation of habituated and bold wolves in Europe.
