Die Rückkehr großer Beutegreifer wie Wolf und Bär beschäftigt seit Jahren Landwirtschaft, Politik und Verwaltung in den Alpen. In Österreich, Bayern und Südtirol hat sich die Praxis etabliert, Almen oder Weideflächen als „nicht schützbar“ einzustufen. Damit wurde begründet, dass Herdenschutzmaßnahmen dort kaum möglich oder unverhältnismäßig seien – etwa auf steilen Hochalmen. Doch diese Einstufung brachte erhebliche Unsicherheit: Entbindet „nicht schützbar“ Tierhalter:innen von jeder Schutzpflicht? Und ab wann müssen Behörden aktiv eingreifen, um Weidetiere zu schützen?
Das Rechtsgutachten
Antworten auf diese Fragen liefert ein 2025 veröffentlichtes Rechtsgutachten von Wolfgang Wessely, Senatsvorsitzender am Landesverwaltungsgericht und Lehrbeauftragter an der Universität Wien. Es ordnet die Rechtslage zum österreichischen § 19 Tierschutzgesetz neu und beseitigt zentrale Unklarheiten.
Kernbotschaft: Tierhalter:innen müssen ihre Tiere auch dann schützen, wenn eine Alm als „nicht schützbar“ gilt. Pauschale Ausnahmen kennt das Gesetz nicht – jeder Einzelfall ist zu prüfen. Wo Maßnahmen möglich und zumutbar sind, müssen sie umgesetzt werden. Gleichzeitig betont Wessely die Rolle der Bezirksverwaltungen: Wenn Schutzmaßnahmen unterbleiben, sind diese rechtlich verpflichtet einzuschreiten – bis hin zur Anordnung von Nachtpferchen oder Abtrieben.
Wann eine konkrete Gefahr vorliegt
Besondere Bedeutung hat die Klarstellung, ab wann rechtlich von einer Gefahr für Weidetiere auszugehen ist. Bislang herrschte häufig der Eindruck, erst mehrere Risse rechtfertigten ein Eingreifen. Wessely stellt klar: Eine Gefahr besteht bereits, wenn Indizien vorliegen – etwa durch Rissgutachten, behördliche Maßnahmenverordnungen oder belastbare Monitoring-Daten wie genetische Nachweise, Telemetrie und wiederholte Sichtungen.
Gerade in Regionen mit dauerhaft dokumentierter Wolfspräsenz – beispielsweise in Tirol und Kärnten – reicht diese Datenlage aus, um Behörden zum Handeln zu verpflichten. Sie dürfen also nicht erst bei neuen Vorfällen reagieren, sondern müssen vorbeugend Maßnahmen ergreifen.
Prävention statt Reaktion
Das Gutachten schafft damit eine neue Grundlage: Herdenschutz ist nicht nur eine Reaktion auf bereits eingetretene Schäden, sondern eine präventive Pflicht im Sinne des Tierschutzes. Behörden sind verpflichtet, auf Basis vorhandener Daten Schutzmaßnahmen wie Nachtpferche, Abtriebe oder den Einsatz geeigneter Systeme durchzusetzen.
Bedeutung über Österreich hinaus
Die Einschätzungen Wesselys haben Strahlkraft über Österreich hinaus. Da auch in Bayern und Südtirol vergleichbare Regelungen zu „nicht schützbaren“ Almen existieren, wird das Gutachten dort die Debatten neu anstoßen. Die Botschaft ist eindeutig: Der Schutz von Weidetieren beginnt nicht erst nach dem ersten Riss – er ist verpflichtend, sobald die Gefahr durch Daten und behördliche Entscheidungen belegt ist.
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