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Neue interne Dokumente belegen: Wie der Staatssekretär des Bundesumweltministeriums beim Wolf die Wissenschaft beiseite schob

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Jubel bei der Jagd, Fragezeichen in den Fachbehörden

Als die Bundesregierung im Herbst ihren neuen Art-17-Bericht zur FFH-Richtlinie vorlegte und darin meldete, der Wolf befinde sich in der kontinentalen Region Deutschlands im „günstigen Erhaltungszustand“, war der Applaus in Teilen der Landwirtschaft sofort hörbar. Verbandsvertreter und manche Landespolitiker feierten die Nachricht als Durchbruch: Endlich, so der Tenor, eröffne sich mehr Spielraum für Abschüsse, weniger strenger Schutz, mehr „Flexibilität“ für die Weidetierhaltung.

Gleichzeitig wunderten sich viele Fachleute in Behörden und Verbänden, wie dieser Status erreicht worden sein soll – mitten in einer hoch emotionalen Debatte, mit zunehmenden Konflikten und einer europäischen Rechtsprechung, die beim Schutz streng geschützter Arten ziemlich eindeutig ist. Irgendetwas stimmte nicht.

Der Bericht, den niemand sehen sollte

An dieser Stelle setzte der erste ANCA-Bericht an: „Ups! Verschollener BfN-Wolfsbericht wieder aufgetaucht – und er zeigt: Der Wolf ist gefährdeter als die Politik behauptet.“ Darin wurde ein interner Entwurf des Bundesamts für Naturschutz (BfN) ausgewertet, der in der politischen Diskussion faktisch nicht vorkam, obwohl er die wissenschaftliche Grundlage für die Erhaltungszustands-Bewertung liefert und den Wolf für Gesamtdeutschland als gefährdet einstuft. Trotz dieses Berichts wurde der günstige Erhaltungszustand für zwei der drei Populationen nach Brüssel gemeldet.

Flasbarths Federstrich: Alle Spuren führen ins Bundesumweltministerium

Antworten liefert nun ein zweites, bislang nicht veröffentlichtes Dokument: eine „Bewertung des Erhaltungszustands des Wolfes – kontinentale biogeografische Region“ mit zugehöriger Karte. Auf Seite 1 wird zunächst festgehalten, dass eine Sonderarbeitsgruppe 2023 ein „günstiges Verbreitungsgebiet“ (FRR) festgelegt habe.

Grundlage dafür wären eigentlich zwei Werte aus dem BfN-Entwurf, die auf der großflächigen Habitatmodellierung beruhen: Vorschlag 1 mit 273.100 km² (Habitatmodell, 95-%-Konfidenzintervall) und Vorschlag 2 mit 166.600 km² (konservativeres Modell). Beide Varianten decken weite Teile Deutschlands ab; von den Fachleuten wird ausdrücklich der größere Wert 273.100 km² bevorzugt, weil er eine höhere Sicherheit dafür bietet, dass die Art auch in den nächsten hundert Jahren überlebensfähig ist.

Es tauchte allerdings ein Dokument auf, dass aufzeigt wie Staatssekretär Jochen Flasbarth, SPD-Politiker, früherer NABU-Präsident und langjähriger Präsident des Umweltbundesamtes, klargestellt, dass die auf der Habitatmodellierung beruhenden Werte von 273.100 km² und 166.600 km² nicht als Referenz für das günstige Verbreitungsgebiet in der kontinentalen Region verwendet werden sollten. Stattdessen ordnet Flasbarth einen „referenzbasierten Ansatz“ an – gemeint ist der tatsächlich von Wölfen besiedelte Raum.

Ganz Süddeutschland und Teile Norddeutschlands werden dem Wolf als potentieller Lebensraum genommen

Die tatsächlich von Wölfen besiedelte Fläche betrug im Monitoringjahr 2023/24 80.578 km². Dieser Wert wurde von Staatssekretär Flasbarth als Referenzwert für das „günstige Verbreitungsgebiet“ festgelegt. Damit verschiebt sich der Maßstab: Nicht mehr das mögliche, wissenschaftlich ermittelte Verbreitungsgebiet ist ausschlaggebend, sondern die aktuell von Wölfen besiedelte  Fläche in der kontinentalen biogeographischen Region. 

Das „günstige Verbreitungsgebiet“ schrumpft damit von ursprünglich 166.600 bis 273.100 km² auf etwa 80.000 km² (weniger als ein Drittel der Spanne, die die Fachleute berechnet haben und die notwendig ist, damit der Wolf in den nächsten 100 Jahren eine gute Überlebenschance hat). Um diesen Schritt sichtbar zu machen, wurde im zugehörigen GIS1 Werkzeug die potenzielle Habitatfläche neu abgegrenzt. Auf der Karte sind Teile des Nordens und der gesamte südliche Teil Deutschlands aus den grünen Flächen herausgeschnitten, die zuvor als geeignet galten.

Großen Regionen im Süden und Südwesten Baden-Württembergs, große Teile Bayerns, Hessens, Rheinland-Pfalzs werden so das Etikett „von Wölfen nicht bevorzugtes Habitat“ verpasst, obwohl das ursprüngliche Modell von 2020 (Habitatmodellierung) dort geeignete Lebensräume ausgewiesen hatte. Ganz zufällig sind dort Regionen, in denen stets behauptet wird, dass wolfsabweisender Herdenschutz nicht möglich sei und „wolfsfreie Zonen“ eingerichtet werden müssen. 

Isegrim weiß es besser und zieht trotzdem in „ungeeignetes Habitat“ ein

Besonders auffällig ist, dass die Wirklichkeit diese Entscheidung nicht stützt. In Nordrhein-Westfalen wurden im Monitoringjahr 2023/24 und auch 2024/25 sechs Wolfsterritorien bestätigt, darunter Rudel und Paare, die sich etabliert haben. In Rheinland-Pfalz leben mittlerweile vier Wolfsrudel und auch in Baden-Württemberg und Bayern steigt die Zahl der Territorien sukzessive an.

Gerade jene Länder, die durch die Neuziehung der Habitatgrenzen faktisch an den Rand oder aus der „Range“ geschoben werden, zeigen eine real vorhandene Wolfspräsenz. Einen Raum, den Wölfe nutzen, in dem sie Rudel bilden und Nachwuchs ziehen, nachträglich im Bewertungsdokument zu „ungeeignetem Lebensraum“ zu erklären, ist fachlich kaum zu begründen – politisch aber bequem, weil sich die kleiner geschnittene Fläche leichter zum „günstigen Verbreitungsgebiet“ erklären lässt.

Referenzpopulation nach unten, Stimmung nach oben

Ähnlich gelagert ist die Verschiebung beim Parameter „Population“. Im wissenschaftlichen Berichtsentwurf der Fachpersonen der Bundesländer und des BfN wird für die kontinentale Region eine günstige Referenzpopulation von 282 Rudeln und Paaren genannt – ein Wert, der bereits die von der EU-Kommission geforderte Sicherheitsspanne enthält.

Eine ministerielle Sonderarbeitsgruppe legte hingegen einen Wert von 232 Rudeln und Paaren als günstige Referenzpopulation fest. Bereits diese willkürliche Absenkung stellt einen Verstoß gegen das Vorsorgeprinzip dar. Dennoch wurde der Wert sogar noch weiter abgesenkt auf 187 Rudel/Paare (162 Rudel und 35 Paare). Dieser Wert von 187 liegt sogar noch unter der MVP = Minimum Viable Population – auf Deutsch: minimale überlebensfähige Population. Wird die MVP unterschritten läuft die Population Gefahr wieder auszusterben.

Dass dieser Schritt nicht näher begründet wird, sondern die niedrigere Zahl kommentarlos übernommen wird, verstärkt den Eindruck, dass hier nach einem politisch opportunen Ziel gesucht wurde, nicht nach einer wissenschaftlich belastbaren Untergrenze.

Wachstum auf dem Papier, Stagnation in der Wirklichkeit

Hinzu kommt, dass das Bewertungsdokument ausdrücklich von weiter zunehmenden Beständen und einer „tatsächlichen Verbesserung“ spricht, obwohl zu diesem Zeitpunkt die aktuellen Monitoringzahlen der DBBW und des BfN bereits vorlagen: Für das Wolfsjahr 2024/25 wurde erstmals seit Beginn der Wiederbesiedlung eine Stagnation der Territorien – nach Jahren, in denen die Bestände teils zweistellig wuchsen. Der Zuwachs hat sich deutlich abgeflacht, in einigen Regionen sind Rudel verschwunden, in mehreren Bundesländern häufen sich Hinweise auf illegale Tötungen.

Wer vor diesem Hintergrund im amtlichen Papier weiterhin von „zunehmenden Beständen“ spricht, blendet zentrale eigene Daten aus oder ordnet sie dem politisch gewünschten Bild unter.

Wenn das Bundesumweltministerium seine eigenen Wissenschaftler und Fachbehörde ausbremst

Im Zusammenspiel beider Dokumente – des wieder aufgetauchten „BfN-Entwurfs“ und der NRW-Bewertung mit Flasbarths Vorgaben – entsteht ein Bild, welches für das Bundesumweltministerium heikel ist.

Ein aufwendiger, wissenschaftlich strenger Prozess zur Festlegung von Referenzwerten wird im entscheidenden Moment durch eine Weisung aus dem Staatssekretariat übersteuert: Die modellierten Habitatflächen werden in den Hintergrund gedrängt, der aktuell besiedelte Raum von rund 80.578 km² wird zur neuen „günstigen Verbreitungsgebiet“ erklärt, süddeutsche Regionen werden auf dem Papier zu „ungeeignetem Habitat“, eine Referenzpopulation von 282 Rudeln/Paaren wird auf 187 abgesenkt, und eine Phase stagnierender Territorien wird als weitere Zunahme beschrieben. Die Fachbehörden liefern Zahlen, Modelle mit Sicherheitsspannen – die Politik definiert das Ziel neu, bis „grün“ herauskommt.

Verantwortung endet nicht im Staatssekretariat

Dass ausgerechnet Jochen Flasbarth, ein Staatssekretär mit langer Naturschutzvita, diesen Kurs gesetzt hat, macht die Sache politisch brisant. Aber ebenso klar ist: Politische Verantwortung endet nicht auf Staatssekretärsebene.

Am Ende ist es der zuständige Bundesumweltminister Carsten Schneider, der den Art-17-Bericht verantwortet, die Linie des Hauses trägt – und dafür geradestehen muss, wenn wissenschaftliche Grundlagen im eigenen Ressort beiseitegeschoben werden. Von ihm wird man erwarten dürfen, die Vorgänge transparent aufzuklären und die notwendigen Konsequenzen zu ziehen.

In Berlin und in den Ländern wird deshalb genau beobachtet, wie das Haus auf die nun bekannt gewordenen Unterlagen reagiert. Denn mit dem BfN-Entwurf und der NRW-Bewertung sind vermutlich noch nicht alle Akten auf dem Tisch, die die Geschichte des „günstigen Erhaltungszustands“ erzählen. Viele fragen sich bereits, welche Papiere, Mails und Weisungen noch aus den dunklen Schubladen der Ministerialbüros ans Licht kommen werden – und ob sie das Bild bestätigen, das sich jetzt schon andeutet.

Dieses Dokument und Bilder wurde uns von Sabine Sebald vom Wolfpodcast zur Verfügung gestellt.

4 Gedanken zu „Neue interne Dokumente belegen: Wie der Staatssekretär des Bundesumweltministeriums beim Wolf die Wissenschaft beiseite schob“

    1. Gern geschehen. Es ist wichtig die Hintergründe vn solchen Entscheidungen zu erfahren. Traurig ist, dass diesmal das Umweltministerium direkt in die Vertuschung von Wissenschaft involviert ist. Wir sind gespannt ob es da noch Konsequenzen gibt.

      1. Wie gut wäre es, wenn eine gewisse Grüne Partei mit den Erkenntnissen und Belegen nun Druck machen und für Aufklärung sorgen würde. Manches Schweigen ist so still, dass es weh tut.

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