Zum Inhalt springen
Home » Ups! Verschollener BFN-Wolfsbericht wieder aufgetaucht – und er zeigt: Der Wolf ist gefährdeter als die Politik behauptet.

Ups! Verschollener BFN-Wolfsbericht wieder aufgetaucht – und er zeigt: Der Wolf ist gefährdeter als die Politik behauptet.

  • 6 Min. Lesezeit

Ein verschollener Bericht taucht wieder auf

Lange galt er als verschollen – ein interner Fachbericht, der in der politischen Debatte um den Wolf in Deutschland nie öffentlich erwähnt wurde. Er enthält die wissenschaftliche Grundlage für jene Referenzwerte, die bestimmen, ob der Wolf im „günstigen Erhaltungszustand“ ist. Genau dieser Bericht widerspricht jedoch in zentralen Punkten den politischen Meldungen Deutschlands an die EU-Kommission.

Der nun vorliegende Entwurf – Ergebnis hunderter Seiten Forschung, Modellierung, Abstimmungen und genetischer Analysen – zeigt einen Prozess, der in seiner Tiefe und Präzision für FFH-Arten in Deutschland nahezu einmalig ist.


Wie Deutschland zu seinen Wolfs-Referenzwerten kam – und warum dieses Verfahren nun politisch brisant wird

Was bisher kaum öffentlich bekannt ist: Die wissenschaftliche Grundlage für die deutschen Referenzwerte zum „günstigen Erhaltungszustand“ des Wolfs wurde in einem jahrelangen, außergewöhnlich gründlichen Verfahren erarbeitet. Der jetzt vorliegende Entwurf – Ergebnis hunderter Seiten Forschung, Modellierung, Abstimmungen und genetischer Auswertungen – zeigt einen Prozess, der in seiner Tiefe und Präzision für FFH-Arten in Deutschland nahezu einmalig ist.

Die Geschichte beginnt 2020.

Die Umweltministerkonferenz beauftragte den Bund ausdrücklich damit, eine gemeinsame Bund-Länder-Arbeitsgruppe einzurichten, um erstmals einen wissenschaftlich fundierten Wert für die Größe einer „günstigen Referenzpopulation“ des Wolfs in Deutschland zu entwickeln. Die Staatssekretär*innen-Arbeitsgruppe Wolf präzisierte diesen Auftrag wenig später schriftlich: Das Vorgehen zur Bewertung des Erhaltungszustands solle vollständig dargestellt, geeignete Modelle geprüft und ein einheitliches, wissenschaftlich tragfähiges Vorgehen definiert werden.

Das Bundesamt für Naturschutz (BfN) folgte dem Auftrag – und begann einen Prozess, der anders als vieles, was in der politischen Wolfsdebatte passiert, bemerkenswert faktenorientiert und transparent war. Zentraler Baustein war ein Forschungsauftrag an das Leibniz-Institut für Zoo- und Wildtierforschung (IZW). Das Projekt, vergeben im März 2022, sollte klären, wie groß eine Wolfspopulation in Deutschland sein muss, um langfristig nicht auszusterben. Dafür wurde ein Populationsmodell entwickelt, das sogenannte PVA-Modell (Population Viability Analysis). Der Datensatz, auf dem dieses Modell basierte, war deutschlandspezifisch, aktuell und ungewöhnlich gut: Über 20 Jahre Monitoring, ein Habitatmodell aus dem Jahr 2020, genetische Daten, Geburten- und Sterberaten – für keine andere FFH-Art in Deutschland existiert eine ähnlich vollständige Datengrundlage.

Parallel dazu bekam das Senckenberg-Forschungsinstitut den Auftrag, eine eigenständige genetische Analyse durchzuführen. Die EU verlangt eine solche Doppelprüfung ausdrücklich: Der günstige Zustand muss sowohl ökologisch als auch genetisch abgesichert sein.

Die wissenschaftliche Arbeit wurde von einem siebenköpfigen Expertenbeirat begleitet, darunter Fachleute für Populationsdynamik, Ökologie und Wolfsforschung. Die Bund-Länder-AG war regelmäßig eingebunden, erhielt Zwischenberichte und konnte methodische Fragen direkt mit dem IZW klären.

Der entscheidende Bericht, der dann von der Politik ignoriert wurde.

Der entscheidende Moment kam im September 2023. An zwei Tagen trafen sich im Bundesamt für Naturschutz in Bonn jene Fachleute, die in den Ländern für das Wolfsmonitoring verantwortlich sind. Es war ein ungewöhnlich technisches Treffen, aber von hoher Relevanz: Nur diese Fachpersonen – also nicht Politik, nicht Verbände – sollten entscheiden, wie die Ergebnisse der PVA und der genetischen Analyse in konkrete Referenzwerte übersetzt werden. Stimmberechtigt waren ausschließlich die von den Bundesländern benannten Monitoringexpert*innen.

Die Gruppe ging systematisch vor. Als Referenzwert für eine langfristig stabile Gesamtpopulation wählte sie jenes Niveau, bei dem das Modell einen Kipppunkt zeigte – jenen Punkt, an dem die Überlebensrate der Population so weit abfällt, dass das Risiko eines langfristigen Rückgangs steigt. Dieses Niveau lag im Szenario „2b_m22“ bei 339 Rudeln bzw. territorialen Paaren. Dieser Wert gilt in der EU-Rechtssystematik als die Mindestgröße, ab der eine Population langfristig überlebensfähig ist – nicht „optimal“, aber ausreichend stabil.

Dann wurde der Gesamtwert proportional auf die drei biogeografischen Regionen Deutschlands verteilt, basierend auf der Größe des geeigneten Habitats:

  • Alpine Region: 4 Rudel/Paare
  • Atlantische Region: 53 Rudel/Paare
  • Kontinentale Region: 282 Rudel/Paare

Alle Entscheidungen wurden durch wissenschaftliche Nachweise gestützt und von den Ländern in zwei schriftlichen Runden final bestätigt. Auch erste Entwürfe der deutschen FFH-Bewertung gemäß Artikel 17 (Alpen, Atlantik, Kontinental) wurden aus diesen Daten abgeleitet – inklusive einheitlicher Bewertung von Verbreitung, Habitat, Zukunftsaussichten und Population.

Damit lag im Herbst 2023 ein in sich konsistenter, wissenschaftlich sauber erarbeiteter Entwurf vor. Er hätte – wie bei anderen Arten üblich – anschließend in die nationale FFH-Berichterstattung (Art. 17) für 2025 einfließen sollen.

Genau hier beginnt die Brisanz.

Denn Deutschland hat 2025 gegenüber der EU-Kommission für zwei seiner drei Regionen – zuerst die Atlantische Region (31. Juli) und später die Kontinentale Region (Oktober) – einen „günstigen Erhaltungszustand“ gemeldet. Eine Feststellung, die politisch weitreichend ist: Ein günstiger Zustand erlaubt – anders als ein ungünstiger – theoretisch deutlich weitergehende Eingriffe, darunter jagdliche Regulierungen.

Doch dieser politische Befund widerspricht dem wissenschaftlichen Entwurf in mehreren zentralen Punkten. Aus dem Bericht geht klar hervor, dass:

  • die genetische Diversität der deutschen Population noch nicht stabil ist,
  • die Zahl der Rudel in der Kontinentalregion deutlich unter dem Referenzwert liegt,
  • die Zukunftsaussichten aufgrund von Fragmentierung und Verkehrsmortalität nicht als „günstig“ bewertet werden konnten,
  • und das Habitatmodell zeigt, dass erhebliche Flächen zwar geeignet, aber derzeit nicht besiedelt sind.

Mit anderen Worten: Die interdisziplinäre, bundesweite Fachgruppe kam 2023 wissenschaftlich nachvollziehbar zu dem Schluss, dass der Wolf in Deutschland nicht im günstigen Erhaltungszustand ist.

Warum also meldete die Politik dennoch das Gegenteil?

Eine Antwort darauf gibt das Dokument nicht. Auch keine Fußnote, die die Diskrepanz erklärt. Es bleibt offen, wie und auf welcher neuen Grundlage diese politische Neubewertung zustande kam – und ob sie wissenschaftlich abgesichert wurde.

Was bleibt, ist ein Eindruck, der viele Fachleute alarmieren wird:

Ein vier Jahre dauernder, transparenter, datenbasierter Prozess – getragen von Bund, Ländern, Forschung und Monitoring – kommt zu einem Ergebnis. Doch wenige Monate später meldet die Politik auf EU-Ebene einen völlig anderen Zustand, ohne dass ersichtlich wäre, wie man von A nach B gelangt ist. In der FFH-Berichtspflicht gilt eigentlich ein einfaches Prinzip:

Wissenschaft bestimmt den Zustand – Politik bestimmt die Maßnahmen.

Wenn dieses Verhältnis umkehrt, steht mehr auf dem Spiel als nur die Wolfsdebatte. Dann geht es um die Glaubwürdigkeit des gesamten europäischen Naturschutzsystems.

Frage an Österreich

Österreich befindet sich seit nunmehr elf Monaten im Verzug bezüglich der Einreichung seines Berichts gemäß Artikel 17 der EU-Habitatrichtlinie zum Wolf.  Obwohl die Politik und die Bauernvertretung wiederholt betonen, dass der Wolf nicht gefährdet sei, bleibt abzuwarten, welche Informationen der Bericht tatsächlich enthalten wird.  Wissenschaftliche Erkenntnisse deuten darauf hin, dass der Wolf gefährdet ist. Es bleibt jedoch abzuwarten, ob die Politik diese Einschätzung akzeptieren wird. 

Kommentar verfassen

×