Fachartikel in der Recht der Umwelt (RdU 05/2025) analysiert wegweisendes Urteil des Europäischen Gerichtshofs – und zeigt, warum der Wolf in Österreich weiterhin nicht günstig erhalten ist
In der aktuellen Ausgabe der Fachzeitschrift Recht der Umwelt (RdU) (Heft 05/2025, MANZ Verlag Wien) veröffentlichen Jochen und Anke Schumacher vom Institut für Naturschutz- und Naturschutzrecht der Universität Tübingen eine juristische Analyse, die derzeit europaweit Beachtung findet: „Der günstige Erhaltungszustand einer (FFH-)Art – Der estnische Wolfsfall“.
Diese Publikation behandelt das jüngste Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH, C-629/23) zum sogenannten „estnischen Wolfsfall“ – ein Urteil, das die rechtliche Definition des „favourable conservation status“ (günstiger Erhaltungszustand) für geschützte Arten wie den Wolf (Canis lupus) grundlegend präzisiert.
Die Entscheidung ist von zentraler Bedeutung für das gesamte europäische Naturschutzrecht – und insbesondere für die aktuelle Diskussion um das Wolfsmanagement in Österreich.
Das Urteil legt erstmals eindeutig fest, dass der günstige Erhaltungszustand regional und national bestimmt werden muss – und nicht über biogeografische Durchschnittswerte beschönigt werden darf. Der günstige Erhaltungszustand muss zuerst auf regionaler, dann auf nationaler und erst danach auf biogeografischer Ebene bestehen und bewertet werden.

🧭 Worum es im „estnischen Wolfsfall“ geht
Der EuGH hatte darüber zu entscheiden, wie der Erhaltungszustand einer FFH-Art zu bewerten ist, wenn deren Populationen über mehrere Länder hinweg vorkommen – wie beim Wolf im Baltikum und Osteuropa.
Ein Mitgliedstaat kann sich also nicht auf den günstigen Zustand einer grenzüberschreitenden Gesamtpopulation berufen, wenn die nationale oder regionale Population nicht stabil oder reproduktionsfähig ist. Damit stärkt der EuGH die Eigenverantwortung der Mitgliedstaaten und stellt sicher, dass lokale Bestände nicht hinter europäischen Durchschnittswerten verschwinden.
Für wandernde Arten wie den Wolf dürfen grenzüberschreitende Einflüsse – etwa der Austausch mit Nachbarpopulationen – berücksichtigt werden, aber nur, wenn der Lebensraum funktional verbunden bleibt. Das bedeutet: Ohne genetischen Austausch, offene Wanderkorridore und stabile Rudelstrukturen kann kein günstiger Zustand angenommen werden.
📊 IUCN ist nicht FFH – zwei Systeme, zwei Maßstäbe
In Österreich wird derzeit oft argumentiert, der Wolf sei nicht mehr auf der Roten Liste der IUCN und daher nicht mehr gefährdet. Das EuGH-Urteil widerlegt diese Argumentation klar.
In Randnummer 66 des Urteils heißt es wörtlich:
„Die Einstufung der Population einer im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats vorkommenden Tierart in die Kategorie ‚gefährdet‘ der Roten Liste der IUCN schließt nicht aus, dass der Erhaltungszustand dieser Art im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats als ‚günstig‘ im Sinne der Bestimmung betrachtet wird.“ (EuGH, C-629/23, Rn 66)
Damit stellt der Gerichtshof fest: Die IUCN-Klassifizierung ist nicht entscheidend für die FFH-Bewertung. Denn die FFH-Richtlinie verpflichtet jeden Mitgliedstaat zu einer eigenständigen, wissenschaftlich fundierten Analyse seiner Populationen – basierend auf den drei Kriterien aus Art. 1 lit. i Abs. 2 FFH-RL:
- Populationsdynamik,
- stabiles Verbreitungsgebiet,
- ausreichender Lebensraum.
Daraus folgt der ebenso wichtige Umkehrschluss, der juristisch als selbstverständlich gilt:
Eine Einstufung als ‚nicht gefährdet‘ auf der Roten Liste der IUCN bedeutet nicht automatisch, dass eine Art nach der FFH-Richtlinie in einem ‚günstigen Erhaltungszustand‘ ist. Die Bewertung darf ausschließlich auf Grundlage aktueller wissenschaftlicher Daten und der in der Richtlinie genannten Kriterien im jeweiligen Mitgliedstaat erfolgen.

Für die FFH-Richtlinie zählt also nicht die Anzahl der Individuen, sondern die Zahl und Stabilität der reproduzierenden Rudel. Nur wenn sich fortpflanzungsfähige Rudel über mehrere Jahre hinweg stabil halten, kann der Bestand als langfristig überlebensfähig gelten. Nach den aktuellen Daten des Österreichzentrums Bär, Wolf, Luchs leben in Österreich derzeit vier reproduzierende Rudel (2024), mit bislang zwei Fortpflanzungsnachweisen im Jahr 2025. Damit gilt der Wolf auf regionaler wie nationaler Ebene weiterhin als stark gefährdet.
Bei nur vier reproduzierenden Rudeln kann in Österreich derzeit nicht von einem günstigen Erhaltungszustand gesprochen werden. Die Zahlen zeigen klar, dass der Wolf hierzulande noch weit davon entfernt ist, ein stabiles und dauerhaft überlebensfähiges Element seines natürlichen Lebensraums zu sein.

Nationale Verantwortung und klare rechtliche Grenzen
Das Urteil betont, dass wirtschaftliche, gesellschaftliche oder kulturelle Interessen bei der Feststellung des Erhaltungszustands nicht berücksichtigt werden dürfen. Sie können lediglich bei der Gestaltung von Managementmaßnahmen nach Art. 14 FFH-RL eine Rolle spielen – nicht aber bei der Beurteilung, ob eine Art „günstig erhalten“ ist.
Damit verpflichtet der EuGH jedes Mitgliedsland, selbst und auf wissenschaftlicher Grundlage sicherzustellen, dass seine FFH-Arten in einem günstigen Zustand sind. Ein Mitgliedstaat kann sich also nicht auf die Situation in Nachbarländern berufen, um eigene Schutzdefizite zu rechtfertigen.
Bedeutung für Österreich
Am 28. Oktober 2025 kündigte Landwirtschaftsminister Norbert Totschnigg (ÖVP) an, ein Gutachten zum „favourable conservation status“ des Wolfs in Österreich in Auftrag zu geben. Dieses Gutachten soll prüfen, ob Canis lupus hierzulande als „günstig erhalten“ gelten kann – und ob sich daraus Spielräume für ein angepasstes Wolfsmanagement ergeben.
Das EuGH-Urteil legt jedoch klar fest, wie eine solche Bewertung zu erfolgen hat:
- Regional zuerst: Die Analyse beginnt auf regionaler Ebene – etwa in den Alpen, im Waldviertel oder in Kärnten.
- Dann national: Erst wenn diese Teilpopulationen stabil und reproduzierend sind, kann Österreich national von einem günstigen Zustand sprechen.
- Erst danach biogeografisch: Eine günstige Bewertung auf gesamteuropäischer Ebene darf nicht nationale Defizite kompensieren.
Der EuGH macht klar, dass sich Österreich seiner Verpflichtung nicht entziehen kann“, so Schumacher. „Solange der Wolf hierzulande nur in wenigen Regionen reproduziert, kann von einem günstigen Erhaltungszustand keine Rede sein.

Recht der Umwelt (RdU)
Die RdU – Recht der Umwelt ist die führende österreichische Fachzeitschrift für Umwelt-, Energie- und Naturschutzrecht. Sie erscheint im MANZ Verlag Wien und behandelt aktuelle nationale und europäische Entwicklungen aus Rechtsprechung, Verwaltung und Wissenschaft. Beiträge stammen regelmäßig von Fachjurist:innen, Universitäten und Forschungseinrichtungen aus dem gesamten deutschsprachigen Raum.