Ausgangslage: Abschuss eines Risikiowolfs in Niederösterreich
In Zwettl wurde ein Wolf abgeschossen. Als Begründung wurde angeführt: „Wenn Problemwölfe zur Gefahr für Menschen werden, dürfen sie entnommen werden. Die Sicherheit von Menschen und Nutztieren steht immer an erster Stelle.“ Der Wolf habe sich demnach auf weniger als 200 Meter an bewohntes Gebiet angenähert. Diese Distanz wird häufig als klare Schwelle dargestellt. Bei näherer Betrachtung erweist sich die Zahl jedoch als politisch geprägt und nicht wissenschaftlich begründet; eine nachvollziehbare Herleitung, warum ausgerechnet 200 Meter maßgeblich sein sollen, liegt nicht vor.
Uneinheitliche Anwendung in den Bundesländern
In Kärnten, Tirol und weiteren Bundesländern bestehen ähnliche Regelungen: Wölfe dürfen getötet werden, wenn sie sich „zu sehr annähern“. Ungeklärt bleibt jedoch, wie die Entfernung zu messen ist (Luftlinie, Wegeverlauf, Tages-/Nachtzeit) und wie natürliche oder bauliche Barrieren (Flüsse, Zäune, Wald) berücksichtigt werden.
Bereits 2021 hat die EU-Kommission in einem Schreiben an das Land Kärnten genau zu diesen Punkten Fragen gestellt und um eine wissenschaftlich belastbare Begründung gebeten. Eine solche Begründung wurde bislang nicht schlüssig vorgelegt.
Praxis der „Risikowölfe“ in Österreich
Nach Angaben des offiziellen Monitorings des Österreichzentrums Bär, Wolf, Luchs wurden 2023 acht sogenannte „Risikowölfe“ getötet (sechs in Kärnten, einer in Oberösterreich, einer in Salzburg). 2024 kamen mindestens elf weitere Abschüsse hinzu (acht in Kärnten, zwei in Tirol, einer in Vorarlberg). Im Jahr 2025 sind mit Stand Oktober fünf Entnahmen in Kärnten, vier in Tirol und zwei in Niederösterreich dokumentiert. Damit wurden in weniger als drei Jahren über 30 Tiere unter dieser Bezeichnung getötet.
Diese Praxis steht im Spannungsverhältnis zum österreichischen Wolfsmanagementplan, der ein abgestuftes Vorgehen vorsieht: dokumentierte Verhaltensanalyse, Prüfung milderer Mittel und der Nachweis eines konkreten Risikos vor einem Eingriff. Stattdessen wird mit der Kategorie „Risikowolf“ ein unpräziser Begriff verwendet, der die wissenschaftlich etablierten Kriterien für auffälliges Verhalten nicht abbildet.
Relevante Studie: Definition auffälligen Verhaltens
Die 2025 veröffentlichte Untersuchung „Bold wolf behaviour – definitions and analysis of reported past cases across Europe“ (Linnell, J.D.C. et al.) im Rahmen der Large Carnivore Initiative for Europe und des Norwegian Institute for Nature Research (NINA) analysiert europaweit dokumentierte Begegnungen zwischen Menschen und Wölfen. Ziel war es, einheitliche, empirisch fundierte Kriterien für „kühnes“ bzw. potenziell gefährliches Verhalten festzulegen.
Studienpartner auf Landwirtschaft, Jagd, Forschung und Ministerien
- Istituto di Ecologia Applicata (IEA) – Italien 🇮🇹
- CALLISTO – Wildlife and Nature Conservation Society – Griechenland 🇬🇷
- Fakultät für Veterinärmedizin, Universität Zagreb – Kroatien 🇭🇷
- Kroatischer Jagdverband (Hrvatski lovački savez) – Kroatien 🇭🇷
- Landesamt für Wasserwirtschaft, Küstenschutz und Naturschutz Niedersachsen (NLWKN) – Deutschland 🇩🇪
- Slowenischer Forstdienst (Slovenia Forest Service, SFS) – Slowenien 🇸🇮
- Slowenische Landwirtschafts- und Forstkammer (Kmetijsko Gozdarska Zbornica Slovenije) – Slowenien 🇸🇮
- Universität Ljubljana – Slowenien 🇸🇮
- Nationalparkverwaltung Maiella (Ente Parco Nazionale della Maiella) – Italien 🇮🇹
- Universität Turin (Università degli Studi di Torino) – Italien 🇮🇹
- Italienisches Verteidigungsministerium (Ministero della Difesa) – Italien 🇮🇹
- Gemeinde Paredes de Coura (Município de Paredes de Coura) – Portugal 🇵🇹
- Portugiesisches Innenministerium (Ministério da Administração Interna) – Portugal 🇵🇹
- Associação BiÓpolis – Portugal 🇵🇹
- Schwedische Universität für Agrarwissenschaften (Sveriges lantbruksuniversitet, SLU) – Schweden 🇸🇪
- Zavod za gozdove Slovenije (ZGS) – Slowenien 🇸🇮
- FACE – Europäische Föderation für Jagd und Naturschutz (Fédération des Associations de Chasse et de Conservation de la Faune Sauvage) – EU-Ebene 🇪🇺
- Mendel-Universität Brünn (Mendelova univerzita v Brně) – Tschechien 🇨🇿
Methodik und Kernergebnisse
Über 70 historische Fallberichte wurden ausgewertet, darunter 18 dokumentierte Aggressionsfälle. Analysiert wurden Distanzen, Reaktionsmuster (Flucht, Annäherung, Ignorieren), Kontexte (Fütterung, Siedlungsnähe, Wiederholungen) sowie Reaktionen auf Vergrämungsversuche. Daraus wurden drei Verhaltenskategorien mit operativen Abstandsschwellen abgeleitet:
- Gewöhnte oder neugierige WölfeDistanz: meist 100–300 m zu Menschen/Gebäuden.Verhalten: Beobachten aus Abstand, Rückzug bei Annäherung.Kontext: Gewöhnung durch regelmäßige Präsenz/Nahrungsquellen (Kadaver, Abfälle).Risiko: keine unmittelbare Gefahr, aber potenzielle Vorstufe weiterer Gewöhnung.
- Kühn („bold“) – erhöhte AufmerksamkeitDistanz: regelmäßig 30–100 m, oft bei Tageslicht.Verhalten: ausbleibendes Fluchtverhalten, wiederholte Beobachtungen in Siedlungsnähe.Empfehlung: Beobachtung, Vergrämung, konsequente Beseitigung von Futterquellen.
- Gefährlich / potenziell gefährlichDistanz: unter 30 m (teils 0–10 m).Verhalten: Ignorieren von Abschreckung, Folgen von Personen, Verharren trotz aktiver Abwehr, aggressives Verhalten.Schwelle: wiederholte Annäherungen unter 30 m bei aggressivem Verhalten gelten als kritischer Grenzwert.Empirik: Nahezu alle dokumentierten Angriffe wurden von Annäherungen < 50 m vorhergegangen; Angriffe bei > 100 m sind nicht belegt.
Die Typologie wurde in mehreren Ländern (u. a. Norwegen, Finnland, Deutschland, Italien) in Leitfäden aufgegriffen.
Befundlage in Europa im Vergleich
Europaweit erfüllten lediglich rund 20 Fälle die wissenschaftlichen Kriterien für auffälliges Verhalten – bei einem Bestand von über 20 000 Wölfen. In über 80 % der Fälle war menschliches Verhalten ursächlich, insbesondere Fütterung, schlecht gesicherte Abfälle, Luderplätze oder offenes Tierfutter. Betroffen waren häufig junge, unerfahrene Tiere, die Siedlungen als leicht zugängliche Nahrungsquelle kennengelernt hatten.
Demgegenüber hat Österreich innerhalb von drei Jahren mehr als 30 Wölfe als „Risikowölfe“ eingestuft und abgeschossen. Dies wirft Fragen nach der Kompatibilität der Vollzugspraxis mit wissenschaftlichen Kriterien und mit dem nationalen Managementplan auf.
Fallbeispiel Zwettl: Offene Prüffragen
Für den Fall Zwettl ist bislang nicht dokumentiert, ob vor Ort leicht zugängliche Nahrungsquellen vorhanden waren (z. B. offene Mülltonnen, Luderplätze mit Jagdabfällen, Schlachtabfälle, Tierfutter). Ebenso wenig ist bekannt, ob es sich um ein durchwanderndes, junges Tier handelte. Gerade diese Abklärung ist entscheidend: Wo Futterquellen entfernt und Abfälle konsequent gesichert werden, nehmen Beobachtungen von Fuchs, Wolf und Goldschakal in der Regel deutlich ab. Ohne diese Ursachenanalyse greift ein Abschuss zu kurz.
Bedeutung für die Almwirtschaft
Für die bäuerliche Produktion ist Vertrauen der Konsumentinnen und Konsumenten zentral. Produkte wie Almbutter oder Bergkäse stehen für naturnahe, verantwortungsvolle Erzeugung. Werden wissenschaftliche Standards und rechtliche Vorgaben im Umgang mit großen Beutegreifern nicht konsequent beachtet, kann dies die Glaubwürdigkeit der gesamten Wertschöpfungskette belasten. Prävention, klare Kriterien, saubere Dokumentation und eine transparente Behördenpraxis sind daher auch im Interesse der Landwirtschaft.
Fazit
Die pauschale 200-Meter-Schwelle ist wissenschaftlich nicht belastbar und operativ unpräzise. Erforderlich sind:
- klare, europaweit erprobte Verhaltenskriterien (z. B. Schwelle < 30 m bei aggressivem Verhalten für potenzielle Gefährdung),
- konsequente Beseitigung anthropogener Attraktoren (Abfälle, Futter),
- prioritäre Anwendung milderer Mittel einschließlich Vergrämung,
- eine nachvollziehbare Dokumentation vor Eingriffen entsprechend dem Wolfsmanagementplan.
Ein solcher Standard stärkt Rechtssicherheit, Naturschutz und Akzeptanz – und schützt damit auch das Vertrauen in die Produkte der Almwirtschaft.