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Schon wieder ein verschollenes Dokument zum Erhaltungszustand des Wolfs in Deutschland

  • 7 Min. Lesezeit
EU Schreiben über den Erhaltungszustand des Wolfs in Deutschland

EU mahnt Deutschland beim Wolf zu mehr Wissenschaft

Am 13. Oktober 2025 meldete das Bundesumweltministerium (BMUKN) nach Brüssel, dass sich “der Wolf” in der kontinentalen biogeografischen Region Deutschlands im „günstigen Erhaltungszustand“ befinde. Nach Jahren hitziger Debatten wirkt das wie eine ersehnte Entwarnung: Die atlantische Region gilt als günstig, nun auch die kontinentale – Deutschland scheint beim Wolf geliefert zu haben.

Einen Tag später, am 14. Oktober 2025, liegt im Ministerium ein Schreiben aus Brüssel. Eric Mamer, Generaldirektor der EU-Generaldirektion Umwelt, adressiert es an den Staatssekretär Jochen Flasbarth. „Sehr geehrter Herr Flasbarth, lieber Jochen“, beginnt er, bedankt sich für den fristgerechten Bericht zum Artikel 17 der FFH-Richtlinie, lobt die „positive Entwicklung“ beim Wolf in der atlantischen Region. Auch wenn sich der Brief formal auf die Meldung Deutschlands vom 31. Juli 2025 bezieht, hat er eine hohe Brisanz für die einen Tag zuvor nachgereichte Einstufung des günstigen Erhaltungszustands der kontinentalen Wolfspopulation – denn genau die Bewertungslogik, die die Kommission kritisiert, liegt dieser Nachmeldung zugrunde.

Nach den freundlichen Sätzen folgt dann genau diese fachliche Klarstellung, die die deutsche Erfolgsgeschichte in einem anderen Licht erscheinen lässt.

Der Wolf: „Eine der am besten untersuchten Arten“

Für die kontinentale biogeografische Region hatte Deutschland der Kommission zuvor angekündigt, den Erhaltungszustand des Wolfs zunächst als „unbekannt“ zu melden, weil die Referenzwerte für die Bewertung noch von den Ländern „angepasst“ werden müssten. Genau hier setzt Mamer an.

Auf Basis wissenschaftlicher Veröffentlichungen und der laufenden Meldungen der Bundesländer, schreibt er, sei der Wolf „eine der am besten untersuchten Arten in Deutschland“. Die Länder liefern kontinuierlich Daten an die Dokumentations- und Beratungsstelle des Bundes zum Thema Wolf, die das Vorkommen territorial fein auflöst – von „Datenmangel“ kann also keine Rede sein.

Diese Daten zeichnen nach Einschätzung der Kommission ein klares Bild: Im Nordosten Deutschlands habe sich das Verbreitungsgebiet des Wolfs „sehr gut entwickelt“. Im Süden und Südosten dagegen sei die Art weiterhin „unzureichend besiedelt“. Mit anderen Worten: von einem flächig „günstigen“ Erhaltungszustand des Wolfs kann keine Rede sein – strukturelle Lücken gehören zum Befund.

Vier Parameter – und ein klares „Nein“ zu Schönrechnerei

Mamer ruft in seinem Schreiben die Grundlogik der FFH-Richtlinie in Erinnerung. Die Bewertung des Erhaltungszustands müsse auf den besten verfügbaren wissenschaftlichen Daten beruhen, erhoben im Rahmen der Überwachung nach Artikel 11. Sie habe auf biogeografisch-nationaler Ebene zu erfolgen und sich auf vier klar definierte Parameter zu stützen:

  1. Verbreitungsgebiet,
  2. Population,
  3. Lebensraum der Art,
  4. Zukunftsaussichten.

Ein Satz darin ist entscheidend:

“Wird ein Parameter als ungünstig bewertet, kann die Gesamtbewertung des Erhaltungszustandes nicht „günstig“ ausfallen.”

Damit macht die Kommission unmissverständlich klar: Wenn der Wolf im Süden und Südosten weitgehend fehlt, kann der Gesamtzustand nicht positiv bewertet werden. Ein paar starke Vorkommen im Nordosten heben die strukturellen Lücken im Rest des Landes nicht einfach auf.

Gleichzeitig fordert die Europäische Kommission, dass Veränderungen zwischen zwei Artikel 17 Berichtszyklen eindeutig identifizierbar bleiben: entweder als tatsächliche Bestandsentwicklung oder als bloßer Effekt geänderter Methoden und Daten. Jede Annahme und jede Abweichung muss in einem Audit Trail dokumentiert und begründet werden.

Die Europäische Kommission betont die Notwendigkeit wissenschaftlicher Strenge, insbesondere in dem Moment, in dem sich das Bundesministerium intern bereits von diesen Standards abgekehrt hat (wir berichteten).  In diesem Kontext ist das Schreiben als eine höfliche, aber eindeutige Aufforderung zu interpretieren, den Wolf gemäß den Vorgaben der Richtlinie zu bewerten und nicht entsprechend politischer Präferenzen.

Berlin macht aus der Messlatte eine Stellschraube

Obwohl die Kommission in dem Schreiben klar und deutlich wissenschaftliche Erkenntnisse betont, hat das Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, nukleare Sicherheit und Verbraucherschutz intern bereits eine andere Strategie verfolgt.  

Wie wir bereits berichteten, begann dieser Kurswechsel seit der Übernahme des BMUKN durch die SPD. Ein umfassender interner Entwurf des Bundesamtes für Naturschutz (BfN) aus dem Jahr 2023 mit strengeren Referenzwerten verschwand auf unerklärliche Weise. 

Ein internes geheimes Papier vom 13. August 2025 skizziert dann die Bewertung für die kontinentale Region. Darin definiert Staatssekretär Jochen Flasbarth des BMUKN das „günstige Verbreitungsgebiet“ des Wolfs im Wesentlichen als das Gebiet, in dem Wölfe derzeit Territorien besetzen – nicht mehr als den potenziell geeigneten Lebensraum, der zuvor durch Modelle berechnet worden war. 

Infolgedessen reduziert sich die Zielgröße erheblich, und ganze Bundesländer wie Baden-Württemberg, Hessen, Bayern, Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen gelten als ungeeignete Habitate für Wölfe. Parallel dazu reduziert das Ministerium die Referenzpopulation schrittweise, bis die aktuelle Anzahl der Rudel dem Label „günstig“ entspricht. 

Auf dem Papier erscheint der Wolf im grünen Bereich – nicht, weil sich biologische oder datenbezogene Gegebenheiten grundlegend geändert hätten, sondern weil die Messlatte gesenkt wurde.  Diese Neubewertung wirft zudem eine wesentliche Rechtsfrage auf: Wenn der Staat offiziell erklärt, dass der Wolf in bestimmten Regionen nicht heimisch werden wird, wie lange darf er dort dann noch Herdenschutz fördern – und mit welcher Begründung?

Diese Modifikationen eines ursprünglich konsistenten Fachverfahrens verdeutlichen die Diskrepanz zwischen politischem Willen und wissenschaftlicher Logik.

Transparenz nach außen – Schweigen nach innen

Das BMUKN kommuniziert selbstbewusst den „günstigen Erhaltungszustand“, während der Öffentlichkeit die internen vertraulichen Dokumente, die kontraindikative Informationen enthalten, zunächst nicht zugänglich gemacht werden.  Das Ministerium unterlässt es, folgende Informationen zu kommunizieren:

  • dass es einen fachlich deutlich strengeren BfN-Entwurf gab,
  • dass ein Staatssekretär die Bewertungslogik zugunsten eines kleineren Wolfsgebiets verschoben hat,
  • dass ein internes Papier die neue, weichere Bewertung bereits Wochen vor der offiziellen Meldung festschreibt,
  • und dass Brüssel noch mitten im Verfahren schriftlich dazu auffordert, genau das zu unterlassen.

BfN-Entwurf, Flasbarths Anweisungen und nun der Kommissionsbrief – keines dieser Papiere legt das BMUKN freiwillig offen. Sie werden nach und nach durch Recherche bekannt. Für ein von Steuergeld finanziertes Umweltressort, das Transparenz und „evidenzbasierte Politik“ gern im Munde führt, ist das mehr als ein Schönheitsfehler.

Kollisionskurs mit Brüssel und der eigenen Wissenschaft

Zusammen mit dem verschluckten BfN-Entwurf ergibt sich ein Bild, das weit über Detailfragen der Wolfsökologie hinausgeht. Es zeigt ein Umweltministerium, das im politisch aufgeheizten Thema Wolf offenbar bereit ist, Bewertungskriterien nachträglich zu verschieben, statt offen zu sagen, dass der günstige Erhaltungszustand noch nicht erreicht ist.

Das Problem ist nicht nur fachlich, sondern institutionell: Ein Haus, das sich in anderen Bereichen – vom Klimaschutz über die Wasserrahmenrichtlinie bis hin zu Themen wie Pestiziden, Lebensmittelsicherheit und Feinstaub – auf wissenschaftliche Evidenz beruft, riskiert seine Glaubwürdigkeit, wenn es bei der ersten großen Konfliktart beginnt, die eigene Wissenschaft zur Verhandlungssache zu machen.

Die naheliegende Frage lautet deshalb: Wenn man beim Wolf potenziell geeignete Lebensräume kurzerhand zu „nicht wolfgeeigneten Habitaten“ erklärt, um einen günstigen Zustand ausrufen zu können – wo verläuft dann die Grenze? Gilt der Anspruch, Politik an Daten auszurichten, beim CO₂-Budget, bei Nitrat im Grundwasser, bei Glyphosat-Rückständen im Essen und bei Feinstaub auf der Straße wirklich fester als beim Wolf?

Der Erhaltungszustand des Wolfs in Deutschland als Warnsignal

Auf der einen Seite eine europäische Behörde, die darauf besteht, dass der Erhaltungszustand einer streng geschützten Art nach klar definierten, wissenschaftlichen Parametern bewertet wird – mit allen Lücken, die eine solche Bewertung sichtbar macht. Auf der anderen Seite ein nationales Umweltministerium, das im politisch überhitzten Feld offenbar bereit ist, Messlatten zu verschieben, statt offen einzuräumen, dass der günstige Erhaltunszustand des Wolfes noch nicht erreicht ist.

Der Wolf ist damit längst mehr als ein Symboltier. Er wird zum Testfall für die Integrität wissenschaftsbasierter Politik. Ob der nächste Brief aus Brüssel an Berlin dann wieder mit „Lieber Jochen“ beginnt, wird nicht nur eine Stilfrage sein. Wir sind gespannt, welche Dokumente als nächstes ans Tageslicht kommen.

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